The Construct of Time
2023, 2 Fotos, 1 Text, Dimensionen variabel


Das obere Foto zeigt meine Großmutter 1985 mit mir vor dem Schloss Neuschwanstein, das untere zeigt sie genau darunter als junge Frau mit Brüdern und Schwestern auf Miyajima, Hiroshima, etwa 40 Jahre zuvor, kurze Zeit vor dem Atombombenabwurf.
Was liegt in dem Gap zwischen den beiden Fotos? Räumliche, zeitliche, emotionale Entfernungen und eine Verkettung von Ereignissen, ohne die es mich nicht geben würde.
Der Text kreist um die schwer fassbaren Fragen um Zufälligkeit von Existenz und Identität.
Ich liege im Bett und betrachte die zufälligen Falten, die die Bettdecke wirft. Helligkeiten, Schatten. Das Zimmer es nicht dunkel und nicht hell, nicht laut, nicht leise. Die Geräusche, das Rauschen der Bäume mit ihren vertrockneten Blättern, entferntes Murmeln von Menschen in Cafés, auf der Straße, in Restaurants, Worte verschmelzen und lassen sich nicht voneinander differenzieren, sie verwickeln sich ineinander, gehen ineinander über. Sprache, reduziert auf ein bloßes Grundrauschen, begleitet von meinem ruhigen Atem im Takt, der einzige unscharfe Beweis meiner Existenz. Dazwischen wie kleine helle Akzente, das Klirren von Besteck.

In diesem Moment fühle ich mich, als wäre die Welt weit entfernt. So viele Dimensionen von Entfernung – räumliche, zeitliche, emotionale – erstrecken sich von mir, dem zufälligen Bewusstsein dieses willkürlichen Faltenwurfs der Bettdecke, aus in alle Richtungen. Früher habe ich mich oft gefragt, warum in meinem Leben räumliche Distanzen kaum eine Rolle spielen. Gerade weil es mich ohne sie nicht geben würde. Im Gegensatz zu mir haben Entfernung, Abschiede und Aufbrüche in die Fremde, in meiner Familie eine große, schicksalsbestimmende Rolle gespielt.

Ich frage mich, ob es überhaupt Entfernung gibt in meinem Leben oder ob bloß das Wort übrig geblieben ist, während sie aufs Unkenntlichste verkleinert wurde von all den Möglichkeiten und Gelegenheiten, mühelos und in wenigen Stunden um die ganze Welt zu reisen.

Was für eine andere Bedeutung hatte das Wort „Entfernung“ für meine Eltern und Großeltern. Wie haben sie das Wort verstanden, auf welchen Sprachen. Das Wort muss die Bedeutung gehabt haben von Zurücklassen von Vertrautem und Neuanfang in einer fremden Umgebung. Muss für Anpassung und Umstellung gestanden haben, und vor allem für oft endgültige Abschiede. Für Unwiderrufbarkeit und Ende. Vielleicht hat das Wort ihnen Angst gemacht. Aber das ist Spekulation.

Jahre nachdem mein Großvater gestorben war, tauchte ein Brief auf, in dem er seiner Mutter, die er nicht kennenlernt hatte aufgrund von zu viel Entfernung, auf mehreren Seiten Briefpapier erklärte, aus welchen Gründen er seine minderjährigen Kinder in die Fremde geschickt hatte. In dem Brief sprach er von der „Fremde“, wie von einer Person. Er war überzeugt, dass sich diese Fremde um seine Kinder kümmern würde, so wie sie für ihn gesorgt hatte. Besser als jemals irgendjemand anderes, aber was hat das mit mir zu tun?

Manchmal werde ich gefragt, woher ich komme, und oft nach der Bedeutung meines Namens. Warum fremde Namen mehr Bedeutung zu tragen scheinen, weiß ich nicht. Mein Name stammt von dem japanischen Wort für „zu Fuß gehen“, und das ist passend, weil ich gerne viel weiter zu Fuß gehen würde, und am liebsten nicht umkehren. Das sage ich nicht, stattdessen sage ich oft, ich heiße wie, „ich“-„du“-„mich“ auf Englisch. So merkt sich jede*r meinen Namen.

Etwa gleich oft höre ich beides, dass ich nicht so aussehe, als würde ich nicht aus Deutschland kommen, und dass man mir ansehen würde, dass ich nicht aus Deutschland komme. Oder dass ich nicht ganz aus Deutschland komme. Nicht selten erkläre ich dann, in welchen Prozentsätzen ich von woher komme. Ich weiß nicht, ob ich diese Prozentsätze fühle. Andererseits ganz fühle ich mich auch nicht. In meinem Leben habe ich keine großen Entfernungen zurückgelegt. Ich gehe einfach nur gerne zu Fuß.