Grab
für T.
Ayumi Rahn, 2022

Am ersten Weihnachtsfeiertag wollte ich das Grab eines Freundes besuchen, aber konnte es nicht finden. Dabei war ich mir zu einhundert Prozent ( tot-) sicher gewesen, dass ich es auf Anhieb finden würde. In Gedanken war ich den Weg von der Kapelle bestimmt mehrere tausendmal gelaufen, dem Sarg nach zu dem Loch in der Erde. In Wirklichkeit war ich in den Jahren danach vielleicht ein, zweimal dort gewesen. Aber gedanklich stehe ich bestimmt noch wöchentlich vor dem Loch. So hat sich eine trügerische Vertrautheit entwickelt, in Folge derer ich mir nun sicher war, das Grab auf Anhieb zu finden. In meinen Gedanken gab es auf dem Friedhof auch nur dieses eine Grab, an ein anderes erinnerte ich mich nicht. Widerwillig stellte ich fest, dass der Friedhof voller Gräber war.

Vorher war ich in einem Blumenladen, in demselben, in dem ich vor der Beerdigung war. Kontinuität verleiht trostlosen Situationen zumindest etwas Feierliches. Die Beerdigung war im Januar, also eigentlich zur selben Jahreszeit. Damals war es mir gelungen, einen wirklich schönen, großen Strauß Wiesenblumen zusammenzustellen. Dieses Mal gab es nur eine kleine Auswahl an kränklichen Blumen, sonst nur Kränze, kitschig geschmückt, Weihnachten für Gräber. Langweilig alles. Ich entschied mich für ein paar Blumen, und weil ich den Strauß dieses Mal ja schlecht in das offene Grab werfen konnte, kaufte ich kurzerhand eine Vase dazu.
Auf dem Weg kaufte ich bei der Tankstelle, vor der wir früher oft Bier getrunken hatten, früher Aral, jetzt Total, JET oder was anderes, eine Flasche stilles Wasser. Und erst dann fiel mir ein, dass es ja eiskalt war, Minus x Grad, zwar kein Schnee, aber alles vereist, und ich musste lachen. Was passiert eigentlich mit Blumen in gefrorenem Wasser, das wusste ich gar nicht. Aber einen blöden Kranz zu kaufen, hatte ich auch keine Lust.

Auf dem Friedhof war ich dann schon durchgefroren. Um mich mental auf den Anblick des Grabes vorzubereiten, war ich extra zwei U-Bahnstationen zu Fuß gegangen und dann wie gesagt *überrascht* von der unerwartet großen Anzahl an Gräbern. Einer unübersichtlichen Anzahl.

In meiner Erinnerung hatte sich das Grab hinten rechts befunden. In meiner Erinnerung war der Friedhof auch recht klein, jetzt kam er mir riesig vor.
Die Kränze auf den Gräbern, alle Blätter, Blumen hatten zierliche weiße Umrandungen aus Raureif und Eis, und mir gefiel der Gedanke, dass sich mein Strauß bald auch ästhetisch einreihen würde. Wenn ich das Grab finden würde. Und während ich die Gräberreihen zielstrebig ablief, wägte ich ab, ob ich nun das stille Wasser in die Vase füllen sollte, oder nicht.

Wenn ich mich in das vertraute Bild zurückimaginierte, befand sich, vor mir das Loch im Boden, hinter mir eine Mauer. Nach diesem Kriterium schritt ich nun die Gräber ab, viele Gräber, viele Namen, alle sagten mir nichts. Wie lästig, so viele Namen lesen zu müssen.

So lange ich es aushielt, weigerte ich mich, mir einzugestehen, dass ich das Grab nicht finden würde, keine Chance. Dann hielt ich Ausschau nach Plänen, Namenslisten, und spielte mit dem Gedanken, die Blumen auf ein fremdes Grab zu legen, denn das würde er sicher verstehen, wahrscheinlich würde es ihm sogar gefallen, und erst dann, nach mehr als einer Stunde, kam mir die Idee, jemanden um Hilfe zu bitten. Und ich fragte zwei Gärtner und war regelrecht bestürzt, als mir der eine in derben bayrisch antwortete, weil wer spricht denn hier noch bayrisch, und sagte, da soll ich bitte im Büro nachfragen.

Der Weg zum Büro neben der Kapelle erschien mir ewig, und ich dachte daran, dass es ja auch die Möglichkeit gäbe, in die U-Bahn zu steigen und davonzufahren, er hätte das völlig ok gefunden.

Als ich am Büro ankam und klingelte, öffnete niemand, und ich entdeckte den Zettel, Mittagspause zwischen 13 und 14 Uhr, es war 10 nach 1.

Auf der anderen Straßenseite war ein Café neben dem Steinmetz, geeignet für Trauerfeiern, auch für mich geeignet. Zum Glück war kein Leichenschmaus im Gange, und es tat gut, im Warmen zu sitzen. Hunger hatte ich ja auch. Nachdem ich dem Kellner Impfausweis und Perso gezeigt hatte, sagte er, als wollte er mir auf die Sprünge helfen, „dem Namen nach zu urteilen, sind sie wohl Vegetarierin?“, woraufhin ich das letzte Brötchen mit Salami auswählte, das wirklich unappetitlich aussah und das er mir peinlich berührt servierte.

Kurz nach zwei machte ich mich wieder auf zum Büro. Ich klingelte und klingelte, niemand öffnete. Nach einer Weile entdeckte ich den Aushang: aufgrund der Coronamaßnahmen ist das Büro derzeit nicht geöffnet, bitte kommen sie zu dem Fenster um die Ecke und nennen sie dort ihr Anliegen.
Ein Fenster um die Ecke war tatsächlich gekippt, was ich als ein gutes Zeichen wertete, aber es befand sich im Hochparterre, ca. 3 Meter über der Boden. Nun stand ich auf dem Parkplatz des Friedhofs und rief mit dem Kopf im Nacken in Richtung Fenster, erst unsicher, dann immer lauter: Hallo? Ich bin auf der Suche nach XX! Ich möchte wissen, wo XX ist, wo finde ich XX! Ich möchte zu XX! WO IST XX? Mir fielen immer weitere Varianten ein, und mir gefiel es sehr, wie in jeder Art zutreffend jeder Satz war.
Endlich wurde das Fenster geöffnet, ein Kopf erschien und sagte bloß, und das machte den Moment noch absurder: „Ah, den Staatsanwalt suchens?“, verschwand. kam zurück mit einem Plan, auf dem das Grab mit einem Kreuz markiert war.
Das Grab war nicht in der Nähe einer Mauer

Ich arrangierte die Blumen in der Vase, kratzte ein paar größere Kiesel aus dem vereisten Boden, füllte sie mit in die Vase, um ihr mehr Halt zu geben, füllte nach kurzem Zögern etwas Wasser hinein und stellte sie auf die unebene Erde.
Dann versuchte ich ein Zwiegespräch. Ich sagte, hallo, na endlich, ehrlich gesagt, also hörst du, es geht mir nicht gut, bei mir läuft ziemlich viel schief, eigentlich geht es mir gerade echt schlecht... und die Antwort wusste ich im gleichen Augenblick: klar, ist ja typisch, dass du genau dann herkommst. Und es machte mich ziemlich glücklich, zu wissen, wie gut wir uns verstanden hatten.

Ayumi Rahn, 2022