Vulkan
Fujisan
Ayumi Rahn, 2022

Auf den ersten Metern spüre ich ein Beben im Boden. Eher ein Brodeln, unterdrückte Detonationen. Wie aus dem Inneren eines Bergwerks. Sprengungen. In unregelmäßigen Abständen. Eingeschlossene Explosionen.
Es ist neblig. Der Nebel riecht nach Schwefel. Die Schwaden hängen fest im Wald, zwischen den Bäumen, wie Haare in einer Bürste. Die Sicht reicht kaum wenige Meter weit. Der Nebel dämmt Geräusche. Wie die Nebelschwaden hängen die Schallwellen fest in den Bäumen. Die Bäume werden bald weniger. Krumm, als ob sie sich immer tiefer ducken, in sich zusammen kriechen, bis sie irgendwann verschwunden sind, so wie die anderen Pflanzen auch.

Der Weg ist nun kaum noch zu unterscheiden von der Umgebung. Grobkörniger schwarzer Sand, vereinzelt größere Steine, glänzend schwarz, unterschiedlich groß, unregelmäßig verteilt auf dem schwarzen Sand. Die Steine wirken wie geschmolzen. Sie glänzen, wie mit schwarzem Lack bestrichen.
Die Luft hat einen scharfen, fast metallischen Geruch. Stammt er von den Steinen? Von dem schwarzen Lack? Von der verlaufenen Form? Langsam spüre ich ein Pochen in meinen Schläfen.
Das Rumoren im Inneren des Berges nehme ich weiterhin wahr, aber nicht auf dem Trommelfell. Mit anderen Sensoren. Ich kann nicht sagen, welche das sind.
Als sich der Nebel langsam löst, bemerke ich am Himmel zwischen den Wolken halb verdeckt eine blaue Stelle. Als ob nun alle Hoffnungen auf dieser blauen Stelle liegen, gewinnt sie an Größe. Irgendwann halten sich Wolken und blauer Himmel die Waage. Sekundenlanges Gleichgewicht

Die Wolkenmasse liegt nun ausgebreitet weit unten zu meinen Füßen, wie ein Teppich, wo eigentlich Landschaft wäre. Einzelne Wolkengebilde ragen auf. Überdimensionale Skulpturen wandeln sich in immer neue Formen. Stelen, Bögen, Säulen.

Je höher ich komme, desto weiter entfernen sich die Detonationen, bis ich sie nur noch spüre als ein kaum feststellbares Rumoren in meinem Körper. Kaum vorhandene Vibrationen meiner Innereien. Meine Schläfen schlagen den Rhythmus für meine Schritte.
Es ist kalt geworden. Die Schuhe rutschen bei jedem Auftreten einige Zentimeter ab im Sand. Sand unter den Schuhsohlen, Knirschen, ⬇ das auch zwischen den Zähnen stattfinden könnte.

Am Nachmittag erreiche ich die Hütte. Fast unwillig bleibe ich stehen. Ich klopfe an die Schiebetür aus braun lackiertem Aluminium, schiebe sie vorsichtig auf, gegen den unregelmäßigen Widerstand der Schiene. Ein kleiner Raum aus Holz, Holzfußboden, Wand aus Holz. Mit dem ersten Atemzug drinnen spüre ich, wie kalt es draußen war, wie windig. Ich ziehe die Schuhe aus, stelle den Rucksack in eine Ecke, setze mich daneben und warte. Der Raum hat kein Fenster.
Man zeigt mir den Schlafraum, den fünfzig Zentimeter breiten Streifen Matratze, der für mich reserviert ist, vor den ich meinen Rucksack abstelle. Der Schlafraum ist eher eine Kammer, in der auf vier Futonmatratzenbahnen, jeweils zwei übereinander links und rechts entlang der Wände, um die fünfzig Schlafsäcke für ebenso viele Körper ordentlich aufgereiht liegen. Ich lege mich hinter meinen Rucksack.

Seitdem ich die Hütte erreicht habe, ist das Pochen meiner Schläfen stärker geworden, hat sich schließlich verdichtet zu einem anhaltenden Schmerz. Die Luft im Schlafraum ist dünn wie draußen, jedoch ohne jede Schärfe. In der süßlichen Luft nehme ich die vielen Körper wahr, die nicht anwesend sind, nicht mehr oder noch nicht. Sie füllt den kleinen Raum bis zum Anschlag.

Ich liege im Halbdunkel und bewege mich nicht. In unregelmäßigen Abständen höre ich die Schiebetür, die sich beim Auf- und Zuschieben in der Schiene verkantet. Andere kommen an, und ich höre Stimmen, Sprachen, die ich nicht verstehe. Ich höre sie hereinkommen und ihre Rucksäcke abstellen. Ich höre sie in ihren Rucksäcken kramen und sich schließlich neben mich legen. Ich bin blind. Ich höre das Pochen in ihren Schläfen.

Irgendwann stehe ich auf. Ich ziehe meine Jacke über. Vor der Hütte stehen wenige Menschen. Noch ist es hell. Das Wolkenmeer hat unbeeindruckt von meiner Abwesenheit immer weitere, neue Skulpturen ausgebildet und ist nun in einem willkürlichen Zustand, der mir umso besser gefällt. Es ist kälter, der Wind ist stärker. Vom Gipfel her rollt eine dunkelbraune Wolkenmasse die steile, schwarze Ebene hinab, direkt zu auf uns. Auf der anderen Seite wandeln sich rosa weißgoldene Wolkenskulpturen in immer neue Formen. Und dazwischen wir, ein paar Menschen, jeder beschäftigt mit sich selbst in seiner eigenen Sprache.

Es gibt ein einfaches Abendessen. Wir essen dankbar an niedrigen Tischen schweigend auf dem Boden. Danach sehe ich noch einmal nach draußen. Inzwischen ist es eiskalt und dunkel. Vier Leute stehen vor der Hütte und diskutieren: Übernachten oder weitergehen? Ich verstehe die Sprache nicht, und doch jedes Wort, was vielleicht an der Dramatik liegt, mit der sie die Sätze aussprechen. Die Entscheidung, die endlich getroffen wird, stand fest von Anfang an: Weitergehen ist keine Option. Draußen zu bleiben ist nicht möglich, zu kalt, zu windig, zu dunkel. Die Ausrüstung nicht gut genug. Sie ringen mit sich und zählen ihr Geld. Es hilft ja nichts.

Ich liege wieder in meinen Schlafsack. Die meisten Säcke sind nun gefüllt und die süßliche Luft steht still im Zimmer. Um halb zwei kann ich nicht länger liegen und stehe auf. Im Zimmer nebenan sitzen bereits einige auf dem Boden. Ich setzte mich dazu. Es regnet. Das Pochen in meinen Schläfen ist verstummt.

Es regnet in Strömen. Der Regen hat die Schärfe aus der Luft gewaschen. Ich schalte meine Stirnlampe ein und reihe mich in die lange Schlange, die bereits in Bewegung ist. Wir steigen. Nach jeder Hütte, an der wir vorbeikommen, werden wir mehr. Wir stapfen im Gleichschritt. Niemand sagt ein Wort. Regen prasselt auf meine Jacke, die ihm längst nicht mehr standhält. Der Regen steht in meinen Schuhen, meine Füße versunken im Wasser. Im grellen Schein meiner Stirnlampe blendet mich das Rucksack-Regencover meines Vordermanns, meiner Vorderfrau, neon gelb, blau, grün. Sonst ist alles dunkel. Ein paar Mal drehe ich mich um und sehe den Berg hinab. In der Ferne leuchten die Lichter der Stirnlampen in den Serpentinen aneinandergereiht, wie Lichterketten festlich um den Berg drapiert, um einen Tannenbaum. Dunkel, Stille, Nacht. Schritt, Schritt, Schritt. Sooft sich eine Gelegenheit bietet, überhole ich rechts oder links auf dem schmalen Weg und reihe mich weiter vorne wieder ein.

Dass wir den Gipfel erreichen, nehme ich zunächst nicht wahr. Keine euphorische Stimmung. Niemand freut sich. Die Schlange kommt an, andauerndes Ankommen. Ankommen über Stunden. Es ist vier Uhr. Der Wind bläst in starken Böen. Ich bin durchnässt. Im Dunklen erkunden meine Augen das Plateau. Bänke, eine Toilettenhütte, eine Gasthütte. Helle Fenster, die Glasscheiben beschlagen, dampfen vom Temperaturunterschied. Laute Stimmen dringen gedämpft nach draußen. Draußen ist es still. Alle darauf konzentriert, nicht auszukühlen. Als ob Konzentration helfen würde.

Durch die beschlagenen Scheiben sieht man in einen Raum voller Menschen. Kein freier Platz und draußen eine lange Schlange vor der Tür, wie vor einem Club, kein Einlass. Wenn jemand herauskommt, darf wer hinein. Wir schweigen. Wer kommt schon freiwillig hier raus?
Dicht an die Hüttenwand gedrängt, ist man vor den stärksten Böen geschützt. Platz ist da nur für wenige. Ein Luxus nicht im Eiswind zu stehen. Die anderen stehen nass im Wind. Hilflos, fehl am Platz. Sind wir freiwillig hier? Durch den Regen ganz nach oben gestiegen? Und warum? Ich stehe an der Holzwand. Links und rechts drängen fremde Körper an mich heran, drängeln, lauern auf ein kleines Nachgeben, um für sich selbst genug Platz an der Wand zu erobern. Was habe ich für Möglichkeiten?

1.: Auf dem Plateau hin und her gehen, nur um in Bewegung zu bleiben. Bewegung wäre gut, aber nicht genug, um in den Böen nicht noch schneller Wärme zu verlieren.
2.: Zwei Stunden wieder hinab zur Hütte. Der schmale Weg ist voller Menschen. Und dann? Beim Abstieg im Regen noch nässer werden? Später dann noch einmal aufsteigen? Ein zweiter Aufstieg ist in diesem Zustand kaum möglich. 3.: Also gleich ganz absteigen, bis ins Tal? Das hieße, stundenlang unterwegs in diesem Zustand?

Soll ich mich in die Schlange vor der Gasthüttentür einreihen? Dazu entscheide ich mich und gebe meinen Platz an der schützenden Holzwand auf. Die Schlange führt entlang an der Längsseite der Hütte und endet einige Meter darüber hinaus. Ich stelle mich hinten an. Hier, hinter der Hütte bläst der Wind ungebremst noch um einiges stärker und noch viel eisiger. Das hatte ich nicht bedacht. Die Tür bleibt geschlossen, niemand kommt heraus. Warum sollte jemand nach draußen kommen? Und wie viele Personen müssen herauskommen, bis ich hinein darf? Ich stehe im Wind. Hier kann ich nicht bleiben.

Vor dem Eingang der Hütte verkauft ein Mann heißen Tee und Kaffee in Dosen aus einem mit kochendem Wasser gefüllten Bottich. Unvorstellbar, die nassen Handschuhe auszuziehen, um in meinen unteren durchnässten Schichten nach Geld zu suchen. Ich brauche kein heißes Getränk. Aber ich stelle mich ganz dicht an den dampfenden Bottich. Ich stehe im Weg, aber das kümmert mich nicht. Ich bin eine Pflanze. Sooft ich auch ungeduldig zur Seite gedrückt oder geschoben werde, ich komme wie von selbst wieder zurück in meine Position. Warmer Dampf steigt aus dem Bottich auf und wärmt.
Die Arbeitenden sind gleich genervt von meiner pflanzenhaften Anwesenheit. Sie sagen es mir deutlich, ich sage nichts. Dann sage ich, dass mir kalt ist. Sie sind ratlos, was mit mir zu machen ist. Sie schubsen mich verholen zur Seite, erst vorsichtig, dann stärker. Das stört mich nicht, das halte ich aus. Nach jedem Schubs kehre ich wieder zurück in meine Position. Ich bin eine Pflanze. Endlich begreifen sie noch vor mir, dass es nur die eine Möglichkeit gibt, mich gründlich zu entfernen: Sie sagen, dann soll ich doch hineingehen. Ich reagiere nicht, ich traue ihnen nicht. Sie sagen es noch einmal und stellen eine Bedingung, ich soll drinnen eine Suppe kaufen. Dann öffnen sie die Tür.

Mit dem ersten Schritt in den dampfenden warmen Raum steigen mir Tränen in die Augen. Durch eine Tür in eine andere Welt. Die niedrigen Bänke sind voller munterer Menschen, dazwischen einige Kellner, die vielbeschäftigt Suppen herbeibringen, kassieren, abräumen. Es ist geschäftig und laut. Neben der Tür finde ich einen freien Platz. Im Vergleich zu draußen ist es warm. Aber schon nach kurzer Zeit findet die Kälte ihren Weg zurück in meine nassen Knochen, als wäre sie ein Teil von mir. In den Tiefen meines Rucksacks finde ich ein trockenes Shirt, ein Paar trockene Socken und einen klammen Pullover. Ich bestelle eine Suppe. Dann halte ich die heiße Suppenschüssel in den Händen. Mir fällt nichts ein, als weiter so dazusitzen. Meine Hände zittern und brennen. Es fehlt die dritte Hand, um aus der Schüssel zu löffeln. Es geht mir besser, aber alles, was ich empfinde ist seltsam leer und taub. Vielleicht ist es so: Spürt man etwas Extremes, und es wird dann schwächer, stellt sich Taubheit ein. So reguliert der Körper den Verlust eines zu starken Reizes. Wie wenn man zu lange in die Sonne geblickt hat. Mir ist wieder kalt, aber ich kann es jetzt aushalten. Ich bin nicht dankbar, nur sehr erschöpft. Noch immer eine Pflanze. Wie lange?

Langsam kommt das Bewusstsein wieder, kriecht vorsichtig zurück in mich hinein. Ich trinke die Suppe, ziehe die trockenen Socken an, die nassen Schuhe, ziehe den klammen Pullover über das trockene Hemd und darüber die durchnässte Regenjacke, ich nehme meinen Rucksack, und wie nach einem langen Traum trete ich nach draußen.

Es ist hell. Hat es also einen Sonnenaufgang gegeben? Im Hellen wirkt der Platz, auf dem ich gerade eben noch herumgeirrt war, völlig anders. Vereinzelt stehen Menschen herum, blicken in die Sonne, als wäre nichts gewesen. Das Wolkenmeer von gestern Abend ist wieder an seinem Platz, wenn auch aufgewühlt und mit silbrigen Glanz, wie fiebrig noch von der Nacht. Ich könnte hineintauchen. Sonnenstrahlen legen sich vorsichtig auf mein Gesicht. Die Nacht kommt mir seltsam vergangen vor. Vergangen, in der Vergangenheit, oder auch nur vorgestellt, niemals gewesen. Und die Sonnenstrahlen? Wo kommen sie überhaupt her? Wie viele Lichtjahre sind sie unterwegs gewesen, um genau jetzt hier heute anzukommen, vor dieser Hütte, wo ausgerechnet ich stehe?

Nach einigen Atemzügen frage ich mich: und nun?
Ich laufe in Richtung Krater. Der Wind ist noch stark und bläst dort ohne Widerstand. Für Momente wird die Sonne immer wieder von Wolken verdeckt. Winzige Wassertropfen schweben in der Luft, schwerelos. Die Morgensonne steht auf gleicher Höhe mit mir. Und auf einmal, für einen kurzen Augenblick, mit dem Rücken zur Sonne, sehe ich mich selbst als Projektion auf den Wolken über dem Krater schweben.

Ich laufe um den Krater. Die Wolken ziehen zu, ziehen wie wild über den Boden hinweg und geben dabei kurze Einblicke in die Tiefe frei. Kein Rauch, kein Schwefel, Wolken, Stille. In einer Stunde habe ich den Krater umrundet und stehe wieder vor der Gasthütte. Die Türen stehen weit offen, drinnen sitzen einzelne Menschen, Radiomusik. Der Mann verkauft noch immer heißen Tee und Kaffee, aber ohne die Dramatik von Kälte und Dunkelheit sieht man den Dosen die Wärme nicht an.

Und die Holzwand, an die ich mich noch vorhin gedrängt habe, im Sonnenschein. Was für merkwürdige Gründe gäbe es, sich an diese Wand zu kauern? Wie in einer Bar, wenn nach langer Nacht die Fenster geöffnet werden, das Tageslicht hineinscheint, und den Qualm vertreibt. Oder die Straßenecke, an der sich gerade noch Dramen abgespielt haben in der gemütlichen Vormittagssonne. Derselbe Ort? Man untersucht den Tatort wie ein Detektiv misstrauisch nach Indizien, nach Resten und Spuren. Irgendetwas muss doch geblieben sein. Irgendwas muss doch übrig sein. Von Kälte, Angst, von Hysterie, von Dunkelheit und Nacht? Nichts.

Ayumi Rahn, 2022